Eine unglaubliche Energiequelle

Von Barbara Spahni, Präsidentin Atemfachverband Schweiz

Der Atem ist eine unglaubliche Energiequelle, die uns im Alltag unterstützen und bereichern kann. Er ist ein kraftvolles Instrument zur Förderung von Gesundheit und Vitalität. Wenn wir lernen, ihn achtsam wahrzunehmen, können wir ihn nutzen, um unser Wohlbefinden zu steigern: Beschwerden werden gelindert oder gelöst, der Gedankenfluss beruhigt sich und die körperlichen, seelischen und geistigen Kräfte des Menschen werden gestärkt.

Der Atem

Schon in der Antike wusste man um die heilende und ganzheitliche Wirkung des Atems als Träger der Lebensenergie.
In vielen alten Kulturen kannte man auch die seelisch-geistige Funktion des Atems. Der Atem war gleichbedeutend mit Lebenskraft und wurde auch zur Bewusstseinsentwicklung eingesetzt.

Ein gestörter Atemfluss ist ein Hinweis, dass die Verbindung eines Menschen mit dem Lebensstrom und seinen nährenden und heilenden Kräften gestört ist.

Der Atem begleitet den Menschen vom ersten bis zum letzten Atemzug.

Er ist aber weit mehr als nur der Austausch von Gasen. Der Atem erfasst den Menschen in seiner Ganzheit, denn die Atmung ist als Grundfunktion mit allen Vorgängen im Organismus verbunden. Sie ist ein lebensnotwendiger Vorgang und geschieht, ohne dass wir darüber nachdenken müssen.
Der Atem spiegelt nicht nur den aktuellen Zustand unseres Körpers wider, sondern auch unsere psychische Verfassung.

Er reagiert unmittelbar auf unsere körperlichen und seelischen Regungen: Unser Verhalten, unsere Gedanken, unsere Gefühle und körperlichen Veränderungen beeinflussen den Atem. Sie können ihn anregen, vertiefen oder auch einschränken.

Ist die Atmung über längere Zeit vermindert und flach, wie zum Beispiel bei anhaltendem Stress, Überforderung, Schmerzen, Ängsten oder inneren Konflikten, geraten wir aus dem Gleichgewicht. Einzelne Körperregionen werden zu wenig stimuliert und die Organe schlechter mit Sauerstoff und Energie versorgt. Dies kann zu Verspannungen, Blockaden und Erschöpfungszuständen im körperlichen und seelisch-geistigen Bereich führen.

Die Folgen können körperliche Beschwerden, Leistungsabfall, Müdigkeit, Unausgeglichenheit und geringe Belastbarkeit sein.

Was passiert bei der Atmung

In der Hektik des Alltags gerät der Atem leider oft in Vergessenheit, obwohl wir täglich über 20’000-mal atmen.

Meist nehmen wir ihn erst wieder wahr, wenn wir gestresst sind, zum Zug rennen müssen, uns vor Angst oder Schmerz der Atem stockt.

Die Atembewegung ist ein komplexes Zusammenspiel der Muskeln des Oberkörpers, zu denen das Zwerchfell, die Zwischenrippenmuskulatur und die Atemhilfsmuskulatur gehören.
Der wichtigste Atmungsmuskel ist das Zwerchfell (Diaphragma). Es hat eine breite, kuppelförmige Form und liegt zwischen Bauch- und Brusthöhle.

Bei der Einatmung zieht es sich zusammen und erweitert den Brustraum.
Die Luft strömt in die Lunge ein und Sauerstoff wird zu den Körperzellen transportiert. Der Sauerstoff wird zur Energiegewinnung benötigt.

Dabei entsteht Kohlendioxid. Bei der Ausatmung entspannt sich das Zwerchfell wieder, die Lunge kehrt in ihren ursprünglichen Zustand zurück und das Kohlendioxid wird mit der Ausatmung abgegeben. Eine gute Atmung ist auch wichtig für die Entgiftung des Körpers, denn viele Stoffwechselprodukte werden mit der Ausatemluft nach aussen transportiert.

Wohin genau die Luft in der Lunge strömt, hängt davon ab, wie wir atmen.

Bei flacher Atmung spannen sich die Zwischenrippenmuskeln an, der Brustkorb hebt sich. Die Luft gelangt dann hauptsächlich in den oberen Teil der Lunge. Bei der Zwerchfellatmung, auch Bauchatmung genannt, dringt die Luft dagegen viel tiefer ein.
Dadurch hat die Lunge mehr Platz, sich in die Tiefe auszudehnen. Dies wirkt sich entspannend auf die Muskulatur und die Herzfrequenz aus.

Bei der Atembewegung werden auch die Körperwände bewegt: Beim Einatmen, wenn sich das Zwerchfell nach unten senkt, werden die Körperwände weit. Beim Ausatmen, wenn sich das Zwerchfell wieder nach oben bewegt, schwingen sie wieder zurück. 

Obwohl wir die Atembewegung hauptsächlich im Brust- und Bauchbereich wahrnehmen, breitet sie sich als Welle im ganzen Körper aus und erreicht alle Schichten. Wird die Ausdehnung dieser Druckwelle durch körperliche Blockaden wie Verspannungen behindert, ist der natürliche Atem- und Energiefluss des Körpers eingeschränkt.

Nasen- oder Mundatmung

Die Nasenatmung ist vorteilhafter und gesünder als die Mundatmung.

Bei der Nasenatmung wird die Luft durch die Flimmerhärchen der Nasenmuschel gefiltert, durch einen Schleimfilm angefeuchtet und erwärmt.

Ausserdem schützen die Riechzellen in der Nase den Körper vor anderen Gefahren wie verdorbener Nahrung oder Schadstoffen in der temluft. Durch die Nase können 10 bis 15 Prozent mehr Sauerstoff aufgenommen werden. Deshalb führt die Nasenatmung im Vergleich zur Mundatmung zu einer besseren Sauerstoffversorgung. Grund dafür ist das Gas Stickstoffmonoxid. Dieses wird in den Nasennebenhöhlen gebildet und automatisch in die Lunge transportiert.

Dort erweitert es die Blutgefässe und fördert die Durchblutung der Lungenbläschen.

Dadurch kann mehr Sauerstoff ins Blut aufgenommen werden, was sich positiv auf unsere Organe auswirkt: Wir haben mehr Energie und fühlen uns geistig und körperlich leistungsfähiger.

Darüber hinaus fördert die Nasenatmung auch die Entspannung, da die Atemluft auf diese Weise viel leichter in den unteren Teil der Lunge gelangt. Die enge Verbindung zum Entspannungsnerv Vagus in diesem Bereich der Lunge ist einer der Gründe, warum die langsame Nasenatmung so wohltuend wirkt.

Atemtherapie für Gleichgewicht und Gesundheit

Atemtherapie ist eine individuelle, natürliche und ganzheitliche Behandlungsmethode, die Körper, Geist und Seele einbezieht. Sie wirkt ausgleichend auf das vegetative Nervensystem, entspannend auf die Muskulatur und regt die Selbstheilungskräfte an.

Die Methode arbeitet ressourcenorientiert und wird bei vielen körperlichen und seelischen Symptomen eingesetzt.

Sie dient sowohl der Persönlichkeitsentfaltung wie auch der gesundheitlichen Prävention.
Zum einen werden atem- und körperorientierte Übungen eingesetzt, die speziell auf die individuellen Bedürfnisse des Einzelnen abgestimmt sind.

Der natürliche Atemfluss wird gefördert, so dass sich der Atem im ganzen Körper ausbreiten und frei fliessen kann. Der Körper wird durchlässig für Atem und Energie und mit frischer Kraft versorgt.
Atem- und Körperübungen helfen auch, Stresssituationen zu bewältigen, gelassener zu reagieren oder bei Angstzuständen den Atem zu vertiefen und zur Ruhe zu kommen.

Zum anderen wird bei der Atembehandlung der Körper auf der Liege mit sanften Griffen durch Druck, Dehnung und Bewegung, ähnlich einer Massage, behandelt. Dies geschieht bekleidet oder direkt auf der Haut.lernt seinen Körper, seinen Atem, seine psychische Verfassung und damit sich selbst in seiner Ganzheit achtsam und bewusst wahrzunehmen. Er kann persönliche Veränderungen in seiner Körperwahrnehmung, seiner Atemqualität und seiner Befindlichkeit beobachten und benennen. Dies vertieft und integriert die Wirkung der Therapie, stärkt die Selbstregulation und die persönliche Gesundheitskompetenz.

Die Erkenntnisse und Erfahrungen aus der Sitzung können in den Alltag übertragen und integriert werden. Atemtherapie ist als Einzeltherapie wie auch in der Gruppe möglich.

Die Atemtherapie hilft bei vielen verschiedenen und unterschiedlichen Beschwerden:
• Stress, Burnout und Erschöpfung
• Depressive Verstimmungen
• Schlaflosigkeit, innere Unruhe und Müdigkeit
• Angst- und Panikattacken
• Muskelverspannungen und Schmerzen
• Symptome nach Long-Covid
• Atemwegserkrankungen und Kurzatmigkeit

Die Atemtherapie ist aber auch präventiv einsetzbar. Sie fördert
• die Entspannung
• gibt Kraft und Energie
• verbessert die Körper- und Selbstwahrnehmung
• stärkt das Selbstvertrauen
• baut persönliche Ressourcen auf
• dient der Selbsterfahrung

Der Atem ist eine wertvolle Kraftquelle, nicht erst, wenn wir Beschwerden haben. Er kann unser Leben positiv verändern, wenn wir ihm die nötige Aufmerksamkeit schenken und lernen, ihn für uns zu nutzen.

Weitere Informationen oder eine Therapeutin oder einen Therapeuten in Ihrer Umgebung finden Sie auf www.atem-schweiz.ch.

Beitrag von Barbara Spahni – Magazin „Heilkunde“ Nr. 4 / Winter 2023