Atemtherapie und der Vagusnerv

Fünf Personen im Kreis berühren einander mit den Handflächen.

Von Annegret Ruoff

Der Vagusnerv boomt. Geht es um entspannende, beruhigende Massnahmen, um Sicherheit und Orientierung, ist unser zehnter Hirnnerv schlicht ein Allrounder. Sein Revival ist ein Statement für die Ganzheitlichkeit von Therapie und Medizin.

Publiziert wurde die Polyvagal-Theorie des amerikanischen Psychiaters und Neurowissenschaftlers Stephen W. Porges bereits 1995. Während sie in der Trauma- und Körpertherapie schnell auf grosses Interesse stiess, sucht man sie bis heute vergeblich in den Lehrmitteln für den Biologieunterricht. So bahnbrechend Porges Forschungen waren: Viele taten sich schwer damit, vom dualen Blick auf das autonome Nervensystem wegzukommen. Das scheint passé.

Der Vagusnerv hat es aus den Fachbereichen von Körper- und Traumatherapie, von Resilienzförderung und Stressmanagement an die breite Öffentlichkeit geschafft, die Literatur zum Thema boomt. Für die Komplementärtherapie ist dies ein gutes Omen: Der Vagus ist – bezogen auf unseren Körper – ein Allrounder.

Es gibt kaum ein Organ, das nicht von ihm beeinflusst und ebenfalls reguliert wird. Dass unser zehnter Hirnnerv, der über das Herz bis in den Magen Darmtrakt wirkt, derzeit das breite Publikum erobert, ist nicht zuletzt ein Statement für den ganzheitlichen Ansatz von Therapie und Medizin.

Die Zweiteilung des Vagusnervs

Das autonome Nervensystem (ANS) steuert alle lebensnotwendigen Grundfunktionen des Körpers. Es ist Tag und Nacht aktiv und zuständig für alle unwillkürlich ablaufenden, automatischen Funktionen wie Herzschlag, Verdauung und Atmung, die Höhe des Blutdrucks oder die Blasentätigkeit.

Früher war der Blick auf das autonome Nervensystem ein dualer: Es wurde aufgeteilt in den Sympathikus, der aktivierend wirkt und verantwortlich ist für die Kampf- oder Fluchtreaktion (figth or flight) sowie in den Parasympathikus, der zuständig ist für Beruhigung und Entspannung (rest and digest). Beide Systeme funktionieren im Wechsel, verhalten sich also – so ein gängiger Vergleich – wie Gaspedal (Sympathikus) und Bremse (Parasympathikus) beim Autofahren.

Diese traditionelle Sichtweise brachte Stephen W. Porges 1995 mit seinen Beobachtungen ganz schön durcheinander. Er stellte fest, dass bei Säugetieren – und nur bei diesen – der Vagusnerv (zuständig für den parasympathischen Bereich) aus zwei Strängen besteht: dem dorsalen (nach hinten gerichteten) und dem ventralen (nach vorne gerichteten). Dies war die Geburtsstunde der Polyvagal-Theorie.

Die drei Stufen der menschlichen Reaktion

Genau genommen bildeten Porges Forschungen nicht das Ende der dualen Sichtweise auf das autonome Nervensystem, sondern deren bahnbrechende Erweiterung. Die menschliche Reaktionsweise auf eine Situation wurde mittels der Polyvagal-Theorie logisch nachvollziehbar:

Sind wir in Sicherheit, ist der ventrale Vagus, der sogenannte «smarte» Vagus, aktiv. Wir interagieren mit der Umwelt, wir kommunizieren, wir empfinden Empathie. Kommt ein Reiz auf uns zu, den unser System als irritierend oder bedrohlich einstuft, tritt der Sympathikus auf den Plan. Er ist zuständig für die Mobilisation, also für die Reaktionsweise von Kampf oder Flucht. In diesem Modus ist die Kommunikations- und Empathiefähigkeit bereits stark eingeschränkt.

Hält die Gefahr an oder ist sie besonders gross, reagiert der dorsale Vagus. Er ist verantwortlich für die Immobilisation. Wir reagieren mit Schock oder Starre – dem sogenannten Totstellreflex. Auch Ohnmacht, Dissoziation und die schnelle Entleerung von Magen und Darm mittels Erbrechen oder Durchfall gehören in diesen Bereich.

Die Reaktionen des autonomen Nervensystems laufen ab, längst bevor unsere Kognition in Kraft tritt; also bevor wir die potenzielle Gefahr bewusst wahrnehmen. Das dient dem Überleben. Während der ventrale Vagus den Säugetieren vorbehalten ist, kommt der älteste Ast des autonomen Nervensystems, der dorsale Vagus, auch bei wenig entwickelten Lebewesen vor.

Vom Nutzen für Therapie und Alltag

Für die therapeutische Arbeit war die Publikation der Polyvagal-Theorie ein Meilenstein. Einerseits lassen sich mittels Übungen, die den ventralen Vagus anregen, innerhalb kürzester Zeit Entspannung und Ruhe erwirken – der Körper «fährt runter». Andererseits hilft das Wissen um die Mobilisationskurve (siehe atemzeit Nr. 23/2022, Atemtherapie und der Vagusnerv) Therapeut:innen wie Klient:innen dabei, zu erkennen, was gerade im Körper passiert und in welchem «Modus» sich jemand befindet.

Dass Klient:innen, deren dorsaler Vagus aktiviert ist, einen schlappen Körpertonus aufweisen, blass und kurzatmig sind und nicht einfach mittels Angst oder Wut auf eine Situation reagieren können, zeigt dem Therapeuten oder der Therapeutin an, dass die Vermittlung von Sicherheit und Orientierung angesagt ist.

Das Wissen darum, dass Menschen, die aus der Schockstarre in die Mobilisation zurückfinden, erstmals mit einem Wust an Energie klarkommen müssen, bevor sie in die Entspannung zurückkehren können, hilft Therapeut:innen dabei, die Klient:innen achtsam und verständnisvoll durch diesen Prozess hindurch zu begleiten.

Durch seinen umfassenden Einfluss auf unser System ist der Vagusnerv zentral für die Atem- und Körpertherapie. Er weist uns den Weg in eine ganzheitliche Behandlungsweise und reagiert – ungeachtet seiner komplexen Funktionen – auf einfache Interventionen. Mit kleinem Aufwand kann die Stimulation des Vagus nicht nur in der therapeutischen Begleitung, sondern auch im Alltag wahre Wunder bewirken.

Literaturverzeichnis

Stephen W. Porges: Die Polyvagal-Theorie. Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Junfermann Verlag, 2010. 93.90 Franken

Stephen W. Porges, Deb Dana: Klinische Anwendung der Polyvagal-Theorie. Ein neues Verständnis des Autonomen Nervensystems und seiner Anwendung in der therapeutischen Praxis. G. P. Probst Verlag, 2019. 63.90 Franken

Stephen W. Porges: Heilen mit der Polyvagal-Theorie. Neuronales Training für Körper, Herz und Hirn. G. P. Probst Verlag, 2021. 41.90 Franken

Deb Dana: Die Polyvagal-Theorie in der Praxis. Den Rhythmus der Regulation nutzen. G. P. Probst Verlag, 2021. 41.90 Franken