Von Annegret Ruoff
Eva Lea Glatt begleitet Menschen mit Atemwegserkrankungen. In ihrer Praxis vermittelt sie Betroffenen Wege aus der Not. Sodass ihnen der Atem wieder zum Freund wird. Wie der Weg dorthin gestaltet wird, erklärt Sie eindrücklich in einem Interview.
Eva Lea Glatt, Atemwegserkrankungen rauben den Betroffenen wortwörtlich den Schnauf. Wie begegnen Sie dieser existenziellen Angst bei Ihren Klientinnen und Klienten?
In der Tat: Atembeschwerden bringen Menschen in eine grosse Not. Aus dieser heraus kommen sie zu mir in die Praxis. In einem ersten Schritt versuche ich, die Betroffenen in ihrem Leiden ernst zu nehmen. Viele können schon ein erstes Mal etwas ruhiger atmen, wenn sie merken, dass ich mit ihren Symptomen vertraut bin und weiss, wovon sie sprechen.
Dann ist mir wichtig, sie über ihr Krankheitsbild zu informieren. Oft wurden sie vom Arzt zwar bereits orientiert, allerdings in einer Sprache, die sie nicht immer vollständig verstehen. Ich gehe mit den Klient:innen Anatomie, Physiologie und Pathologie ihrer Krankheit durch. Vieles erkläre ich auch anhand von Bildern. So kann ich den Betroffenen verständlich machen, dass die Atemtherapie ihre Krankheit nicht heilen kann. Wohl aber lernen sie bei mir, mit ihren Symptomen umzugehen und sich selbst Linderung zu verschaffen.
Und da sind wir auch schon beim dritten Schritt, den Übungen. Dadurch bekommen meine Klientinnen und Klienten das Gefühl, dass sie nicht ausgeliefert sind, sondern sich selbst helfen können. Das gibt ihnen – in all den schwierigen Lebensumständen – Sicherheit und neues Vertrauen.
Sie fokussieren also nicht als erstes auf achtsame Körperwahrnehmung. Warum halten Sie zu Beginn Aufklärung für wirkungsvoller?
Das hat mich meine Erfahrung gelehrt. Gerade bei COPD sind, aufgrund des Rauchens, häufig Männer betroffen. Die hole ich im Kopf ab! Konkretes, nachvollziehbares Wissen gibt ihnen Sicherheit. Wenn sie dann verstehen können, was bei ihrer Krankheit im Körper passiert, dann begreifen sie, warum sie nicht gut atmen können.
Dieses Verständnis für die Vorgänge im eigenen Körper ist wichtig. Machen sie daraufhin die Erfahrung, dass ihnen eine Übung guttut, sind sie sehr kooperativ.
Im Übrigen sind meine anatomischen Ausführungen nicht so trocken. Ich erzähle auch mal einen Witz oder lasse mir einen erzählen. Schliesslich ist Lachen auch Atemtherapie!
Seit vielen Jahren sind Sie als Expertin für Atemwegserkrankungen unter anderem für die Lungenliga im Einsatz. Sie geben spezifische Kurse für Asthma- und COPD-Patienten. Was steht da im Zentrum?
Bei COPD oder Asthma ist gutes Ausatmen entscheidend, insbesondere wenn sich schon ein Emphysem gebildet hat. Wichtig ist mir zu vermitteln, dass der Ausatem nicht nur aus verbrauchter Luft besteht, sondern eine gestaltende Kraft ist. Zugleich bringt einen der Ausatem in Kontakt mit sich selbst.
Wie das?
Unsere Gesellschaft ist total fokussiert auf den Einatem. Diesen setzt sie mit dem Atem gleich. Da braucht es einen starken Wandel im Denken. Oft bringe ich den Vergleich mit einem Glas Wasser. Will man frisches Wasser trinken, und da steht ein Glas mit zwei Tage altem Wasser, dann leert man doch zuerst mal das alte aus. Bei den Lungen verhält es sich genauso. Um frische Luft zu tanken, leert man sie. Das Ausatmen macht aber nicht bloss den Weg frei für neuen Sauerstoff. Indem dabei die Körperwände und das Zwerchfell zurückschwingen, kommt man auch mit sich selbst in Berührung. Es entsteht eine wohltuende Fokussierung. Und eine Kraft.
Wie meinen Sie das konkret?
Da gibt es zwei einfache Beispiele. Einerseits kann man das gut mit der Stimme erklären: Wir sprechen und singen ja nur mit dem Ausatem – und ein wunderbarer Gesang kann sehr tief berühren, oder eine herrische Stimme hat auch ihre Wirkung. Das ist der Ausatem in seiner Ganzheitlichkeit, die uns berührt.
Das andere Beispiel ist der Sport: Man kann in den Fitnesszentren beobachten, und es wird da auch gelehrt, dass die Kraft, zum Beispiel die Beinpresse, mit dem Ausatem geführt wird. Oder bei Spitzensportlern wie Rafael Nadal. Dieser verbindet im Tennis den Schlag mit einem Schrei. Das ist Ausatem pur! Und es zeigt diese Kraft. Sie bringt einen in Verbindung mit sich selbst.
Der Ausatem ist demzufolge zentral für Menschen mit Atemwegserkrankungen.
Ja, und ich möchte Ihnen vermitteln, wie gut dieses Ausatmen tut! Und dass es Orientierung nach innen gibt und Vertrauen. Es ist meiner Meinung nach wesentlich, dass dieses Vertrauen wieder kommt und der Atem einem wieder zum Freund wird. Ehrlich gesagt, bin ich immer wieder sehr berührt, wie auch Menschen mit diesen Krankheitsbildern in eine Ruhe und tiefe Stille kommen können.
Das wäre dann die Gegenkraft zur inneren Not.
Die Klienten müssen die Erfahrung machen, dass die Atemnot und damit die Angst weggeht, wenn sie gut ausatmen. Und weil ihre Not so gross ist, sind sie in der Regel auch bereit dazu. Wichtig ist zudem, dass sie durch die Therapie ermutigt werden, ihren eigenen Atemrhythmus wiederzufinden.
Das heisst?
Hat sich die Atmung beruhigt, leite ich in einem zweiten Schritt eine achtsame Körperwahrnehmung an. Die Betroffenen sollen lernen, ihren Atem wieder wahrzunehmen – und diesem dann folgen. Das hat gerade bei COPD-Betroffenen zur Folge, dass sie bei einem Spaziergang den Partner mal vorausgehen lassen oder sich beim Treppensteigen viel Zeit nehmen. Folgt man dem eigenen Atemrhythmus, wird man innerlich freier. Dann entsteht die Erfahrung: Ich bin nicht mehr so getrieben von meinem Atem. Das ist eine enorme Erleichterung! Sie lässt sich in den Alltag integrieren. Und das führt dazu, dass man nicht mehr den Atem der Leistung anpasst, sondern umgekehrt.
Das klingt, als müsste man viel üben.
Ich würde eher sagen: Es braucht die Bereitschaft, sich einen Moment Zeit für sich zu nehmen. Mir ist wichtiger, eine Übung nur wenige Male zu machen, dafür langsam und im eigenen Rhythmus. Um die Menschen zu motivieren, habe ich so meine Ideen.
Und die wären?
Ich rate ihnen zum Beispiel, eines ihrer Lieblingsmusikstücke aufzulegen und in dieser Zeit eine Übung zu machen. Dabei sollen sie auf keinen Fall zählen, wie viele Durchgänge sie geschafft haben, das führt aus der inneren Ruhe heraus. Aber ich weiss, zu Hause in dieselbe Ruhe zu kommen wie während der Gruppen- oder Therapiestunde, ist ganz schwierig. Oft verleite ich deshalb zum Spielen.
Wie machen Sie das?
Bei COPD und Emphysem finde ich es eine der besten Übungen, Seifenblasen zu machen. Da atmet man gut aus und hat etwas, woran man sich halten kann. Diese Übung ist poetisch und spielerisch. Was auch vielen hilft, ist die Pulmonica, eine Mundharmonika, die speziell für Menschen mit Atemwegserkrankungen entwickelt wurde. Durch das Tönen mit dem Instrument vertieft sich der Atem und die Vibrationen lösen auf eine ganz feine Art den Schleim, sodass die Erkrankten besser abhusten können.
Was auch hilft, sind Bälle. Da leite ich etwa an, zwei in die Hand zu nehmen und sie beim Ausatmen zusammenzudrücken. Danach gilt es zu merken, wie die Bälle sich wieder sanft in die Hände hinein öffnen und der Impuls zum Einatmen von selbst kommt. Mit geübter Empfindungsfähigkeit kann man auch spüren, wie sich die Lunge wieder ausdehnt. Das äussere Bild des Balls verweist damit sozusagen auf das innere Geschehen.
Und was machen Sie mit Menschen, denen jegliches Üben zuwider ist?
Da baue ich die Sequenzen noch mehr in den Alltag ein. Man kann gut beim Fernsehschauen die Füsse kreisen und beim Warten an der Kasse das Gewicht vom einen Bein aufs andere verlagern. Natürlich muss man es mit dem eigenen Atemrhythmus machen. Aber schon ganz kleine Dinge helfen unglaublich viel!
Oft sind ja COPD-Patienten auch auf Sauerstoff angewiesen, tragen den ganzen Tag ein Gerät mit sich herum, mit einem Schlauch hin zur Nase. Das klingt für mich nicht gerade nach Freiheit
Das Problem ist hier wohl weniger der Schlauch an sich als vielmehr die Hemmung, so unter die Leute zu gehen. In dieser Hinsicht finde ich Gruppenkurse sehr hilfreich. Da brauchen sich Betroffene nicht zu schämen, können einander von ihren Erfahrungen erzählen und sich gegenseitig unterstützen. Ich habe auch schon erlebt, dass jemand dann spontan den Rollator eines anderen ausprobiert hat. Sowas ist doch toll!
Was bitte hat ein Rollator mit dem Atem zu tun?
Sehr viel. Durch die Körperhaltung öffnet sich der Brustkorb. Das wiederum erleichtert die Atmung. Zudem haben die meisten Rollatoren eine kleine Sitzbank, auf der man sich jederzeit ausruhen kann.
Wenn wir grad bei den Hilfsmitteln sind: Viele Atemtherapeuten machen einen grossen Bogen um medizinisch verordnete Geräte und unterstützende Medikamente. Wie handhaben Sie das in Ihrer Praxis?
Was ist schon ein Gerät? Das beginnt doch bei der Pfanne mit Dampf zum Inhalieren. Und da hat ja niemand etwas dagegen. Im Ernst, ich finde es sehr wichtig, dass man sich als Atemtherapeut:in von den Klient:innen zeigen lässt, wie diese ihre Geräte einsetzen. Und es ist wesentlich, sie dabei zu beraten. Gerade die Dosier-Aérosols verlangen eine gute Technik, damit sie die optimale Wirkung entfalten können und die Wirkstoffe an den richtigen Ort gelangen. Oft kommen die gar nicht in die Atemwege, sondern bleiben im Mund oder Rachenraum. Schlaf-Apnoe-Patienten, die Mühe haben mit der Maske, die sie nachts anziehen sollen, lade ich ein, ihr Atemgerät mitzunehmen und in der Atembehandlung auch die Erfahrung zu machen, dass die Maske toleriert werden kann. Das braucht oftmals ein paar Stunden. Manchmal zeigen sich dabei tiefer liegende Themen wie Platzangst oder Angst vor Hingabe oder Kontrollverlust.
Aber ich verweise auch auf die Möglichkeit von Didgeridoo-Spielen, welches eine sehr gute – wissenschaftlich nachgewiesene – Therapie-Methode ist bei Schlafapnoe. Oder dann kann man sich einen Tennisball ins Pyjama nähen, damit man sich im Schlaf nicht auf den Rücken legt. Ich erkläre zudem die Wichtigkeit der Maschine. Sie bewirkt in vielen Fällen, dass der Körper sich erholen kann. Denn die Ausschüttung von Stresshormonen, welche bei jedem Atemaussetzer durch den Sauerstoffmangel geschieht, ist schädlich für den Organismus und birgt ein hohes Gesundheitsrisiko.
Wäre es nicht die Aufgabe der Ärzte, den Betroffenen zu zeigen, wie man ein Medikament inhaliert?
Nicht alle Mediziner haben die Zeit dafür. Zudem ist die Situation innerhalb einer Atemtherapie stressfreier und ruhiger. Und ich kann die Klienten auch, je nach Fall, darin bestärken, ein Medikament zu nehmen. Bei Asthmatikern sage ich schon mal, dass sie das verordnete Cortisonpräparat jetzt nehmen sollen, weil eine dauernde Entzündung für den Körper einfach sehr anstrengend und auch ungesund ist. Da ist dann die chronische Entzündung schädlicher als die Nebenwirkungen von Cortison es sind. In diesem Sinne sehe ich mich als Fachfrau, die ihr Fachwissen einbringen darf. Mittlerweile bin ich auch sehr gut vernetzt, sodass ich den Betroffenen weiterführende Adressen vermitteln kann. Die einen wollen die Meinung eines zweiten Arztes einholen, andere zieht es zum Homöopathen. Ich setze mich für dieses Miteinander der verschiedenen Ansätze ein und finde es wichtig, dass sich die Betroffenen auf ihr Gefühl verlassen und sich eine umfassende Behandlung holen. Als Atemtherapeutin ist es meine Aufgabe, hier verschiedene Ansätze und Möglichkeiten aufzuzeigen. Und den Atem dabei nicht aus den Augen zu verlieren.
Atemwegserkrankungen machen ja eng. Hilft es Ihrer Meinung nach, sich eine weite Landschaft vorzustellen und so das Raumgefühl zu vergrössern?
Meine Erfahrung ist, dass Atem- und Bewegungsübungen, welche den Ausatem verlängern, wirkungsvoller sind, da leite ich auch die Technik der Lippenbremse an. In die Wahrnehmung der Körperempfindung führe ich erst, wenn der Atem sich beruhigt hat. Wenn der Atem freier wird, dann können sich von alleine Bilder von Weite einstellen. Oft höre ich aber vor allem Sätze wie: Jetzt wird es leicht und offen. Ist der Atem einmal frei, ist es eher meine Art, mit dem Ausatem die Wahrnehmung nach innen zu führen.
Das klingt paradox.
Wenn man sich Zeit nimmt, der Bewegung des Ausatmens mit Aufmerksamkeit zu folgen, spürt man, dass die Körperwände, die sich beim Einatmen weiten, im Ausatem wieder zusammenschwingen. Dabei entsteht ein Gefühl für ein inneres Im-Lot-Sein. Auch kann Zugang zu einer inneren Tiefe entstehen. So leitet die Bewegung ins Aussen gleichzeitig zu einer Bewegung ins Innere hin. Wenn dann der Ausatem bis in die Atemstille, in eine Atempause führt, kann eine tiefe innere Ruhe entstehen. Sie ist äusserst erholsam für einen Menschen, der sonst von seiner Atmung gestresst wird. Dort gilt es dann, achtsam zu warten, bis der Impuls zum Einatmen kommt: Von selbst! Und das ist ein neues Ja zum Leben!
Viele Menschen mit Atemwegserkrankungen landen entweder in der medizinischen Ecke oder in der Psychosomatik. Wie schaffen Sie als Therapeutin den Spagat?
Gerade weil wir in der Atemtherapie mit allen drei Ebenen – also Körper, Psyche und geistiger Ebene – in Kontakt sind, empfinde ich dies nicht als Spagat, sondern als das Glück unseres Berufes, mit dieser Ganzheitlichkeit arbeiten zu dürfen. Die Frage ist eher, wie finden die Menschen in die Atemtherapie. Das Wissen um die Psychosomatik ist mir wichtig, und trotzdem gilt es aufzupassen, dass man sich nicht verführen lässt, in allen Symptomen psychosomatische Ursachen finden zu müssen. Mir ist auch schon passiert, dass ich einer Klientin auf die Fährte der psychosomatischen Ebene gefolgt bin und dabei übersehen habe, dass man besser erstmal ihre Entzündung behandelt hätte. Sowas ärgert mich dann schon!
Und wie gelingt es Ihnen, solchen Fährten nicht mehr auf den Leim zu kriechen?
Ich behalte den Atem im Fokus! Achte darauf, wie er einen Menschen bewegt, und ob die Bewegung klein oder gross ist, regelmässig oder unregelmässig. Daran kann ich ablesen, wie viel Spielraum ein Mensch gerade hat. Aber ich habe auch ein Oxymeter, mit dem ich den Sauerstoffgehalt im Blut messen kann. Oder ich messe, gerade bei Asthmatikern, den Peak-Flow.
Sie sagen, dass ein Mensch mit wenig Atem auch wenig Spielraum hat. Geht es in der Atemtherapie darum, diesen wieder zu vergrössern?
Der Atem bewegt uns natürlicherweise. Menschen mit Atemwegserkrankungen sind in ihrer Atembewegung eingeschränkt – das reduziert die Erfahrung, in Bewegung zu sein. Zudem nimmt in der Regel auch ihr äusserer Bewegungsspielraum ab: Alles ist anstrengend. Gleichzeitig nimmt die Erkrankung sehr viel Raum ein. Wesentlich ist dann für sie zu erfahren, dass die Atmung über die Übungen wieder in eine Empfindung von einem inneren Bewegungsspielraum führen kann. Es gilt, sich in diesem frei und beweglich zu fühlen. So kann auch die Krankheit als solches etwas in den Hintergrund treten und das Leben, in dem, was es noch bietet, geschätzt werden.